* Institut für Meereskunde, Universität Kiel, Düsternbrooker Weg 20, D - 24105
Kiel, Germany.
Proceedings: Alexander von Humboldt’s Natural History Legacy and Its Relevance for Today
2001 Northeastern Naturalist Special Issue 1:91-108
HUMBOLDT UND DAS MEER:
EINE OZEANOGRAPHIEGESCHICHTLICHE
BESTANDSAUFNAHME
GERHARD KORTUM *
ABSTRACT - Humboldt and the Ocean. A Synopsis of his Contributions to
Marine Sciences. During his “Journey to the Equinoctial Regions of the New
Continent” about 200 years ago, Alexander von Humboldt (1769-1859) made
many oceanographic observations in the North Atlantic and Eastern Pacific
Ocean. His main interest was the interrelation between climate and global ocean
circulation, which is still one of the major topics in current marine research. Ever
since, in 1790, he first saw the open ocean at the North Sea coast, when he, in the
company of Georg Forster embarked on his trip to England, Humboldt had a
longing for the ocean, especially the Pacific, and a strong interest in matters
relating to oceanography. Unfortunately his marine texts are scattered over his
major publications, many notes have never been published. Humboldt did not
finish his decade-long work on “Oceanica,” a synopsis of his marine natural
history ideas. Meanwhile it is generally accepted that Humboldt, although not an
oceanographer in the modern meaning of the word, certainly belongs to the list of
pioneers of marine sciences. Geographers and oceanographers of Kiel University,
have especially covered Humboldts lasting marine legacy in the last century. His
innovative and classical concepts of climate-driven thermohaline ocean circulation
are background for some current international marine research projects.
MEERESKUNDLICHE BEOBACHTUNGEN HUMBOLDTS
WÄHREND SEINER AMERIKANISCHEN REISE 1799-1804
Am 5. Juni 1799 begann Alexander von Humboldt (1769-1859) mit
seiner Einschiffung auf der spanischen Fregatte “Pizarro” im
spanischen Hafen La Corunna nach längerer Vorbereitung seine
denkwürdige Forschungsreise nach Südamerika, die nahezu eine
Weltumsegelung geworden wäre. Über Teneriffa (Aufenthalt dort vom
19.-25. Juni 1799) erreichte Humboldt mit seinem Begleiter, dem
französischen Arzt und Botaniker Aimé Bonpland, nach einer
glücklichen und schnellen Überfahrt, bewußt den Spuren Christoph
Columbus folgend und dessen Reisebericht eifrig studierend, die Neue
Welt (vgl. Kortum 1993, 1999).
“Am 16. Juli 1799 bei Tagesanbruch lag eine grüne malerische Küste
vor uns. Die Berge von Neuandalusien begrenzten, halb von Wolken
verschleiert, nach Süden den Horizont. Die Stadt Cumana mit ihrem
92 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Schloß erschien zwischen Gruppen von Cocosbäumen. Um neun Uhr
morgens , ein und vierzig Tage nach unserer Abfahrt von Corunna, gingen
wir im Hafen vor Anker ...” (Humboldt 1861, Reise ..., Bd.1, S. 217).
Der Atlantik war überquert, das Ziel erreicht. Die Südamerikareise
A.v. Humboldts, die erst am 1. August 1804 mit dem Einlaufen in
Bordeaux ihren Abschluß fand, ist in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen
Bedeutung und Auswirkung wohl nur mit der Weltumsegelung von
Charles Darwin auf der “Beagle” 1831-36 zu vergleichen. Im Todesjahr
Humboldts erschien “The Origen of Species,” eine neue Zeit begann.
Etwa zeitgleich erschien die erste und einzige von Humboldt autorisierte
deutsche Übersetzung der “Reise in die Aequinoctialgegenden des Neuen
Contintents” (besorgt von H. HAUFF, hier zitiert nach Oktavausgabe,
Band 1, Stuttgart 1861). Humboldt und der um 40 Jahre jüngere Darwin
kannten sich durch Briefwechsel und zitierten sich in ihren Hauptwerken
wohlwollend gegenseitig. In diesen beiden berühmten Reisebeschreibungen
spielen Fragen der Meereskunde keine überwiegende,
aber dennoch bedeutende Rolle.
Anläßlich der 200 jährigen Wiederkehr der Atlantiküberquerung
Humboldts wurde bereits näher auf die Vorgeschichte, Umstände und
Ergebnisse dieser Seefahrt hingewiesen (Kortum 1999). Der folgende
Beitrag soll ein weiterer Ansatz zur Bewertung von Humboldts
meereskundlichen Arbeiten sein, der nur in einigen Aspekten auf die
oben erwähnte klassische Reiseschilderung eingeht und auch
Humboldts andere veröffentlichte Texte und nachgelassene
Aufzeichnungen in keiner Weise ausschöpfen kann. Nicht zuletzt sind
hierbei auch die von Humboldt herangezogenen Quellen vor dem
zeitgenössischen Hintergrund der damaligen Kenntnisse über die Natur
des Meeres zu berücksichtigen.
Tabelle 1. Die Seefahrten A.V. Humboldts im Zusammenhang mit seiner
Südamerika-Reise (zu Abb. 1).
Auf
Karte Route Daten Seetage sm
1-2 Coruna-Teneriffa 05.06.1799-19.06.1799 15 1.078
1-3 Teneriffa-Cumana 25.06.1799-16.07.1799 22 3.072
Cumana-Caracas 18.11.1799-21.11.1799 4 162
Nueva Barcelona-Cumana 26.08.1800-27.08.1800 2 54
Cumana-Nueva Barcelona 17.11.1800 1 54
3-4 Nueva Barcelona-Havanna 24.11.1800-19.12.1800 25 1.563
4-5 Trinidad/Cuba-Carthagena 09.03.1801-30.03.1801 21 647
6-7 Callo-Guayaquil 24.12.1802-04.01.1803 12 863
7-8 Guayaquil-Acapulco 17.02.1803-23.03.1803 35 2.264
9-10 Vera Cruz-Havanna 07.03.1804-19.03.1804 13 1.863
10-11 Havanna-Philadelphia 29.04.1804-20.05.1804 22 1.240
11-12 Philadelphia-Bordeaux 30.06.1804-01.08.1804 33 3.611
2001 G. Kortum 93
Wichtig ist festzuhalten, daß Humboldts Seefahrten während der
Gesamtdauer der Expedition in zeitlicher Hinsicht über 10%
ausmachten. Die auf See zurückgelegten Distanzen überwiegen bei
weitem die beschwerlichen Reiseabschnitte auf dem Festland. An 205
Seetagen wurden in insgesamt 12 längeren und kürzeren
Abbildung 1. Wichtige Meeresströmungen im Atlantischen und Ostpazifischen
Ozean nach A. v. Humboldt mit seiner Reiseroute 1799-1804 (nur auf See als
gepunktete Linie dargestellt, Daten und Häfen siehe Tab. 1).
Meeresströmungen: a)Äquinoctial-Strömung, b) Golfstrom, c) Nordatlantische
Drift, d) Rennell-Strömung, e) Arktische Strömung, f) Hudson Bai-Strömung,
g) Südatlantische Strömung, h) Südost-Passat-Drift, i) Südliche
Verbindungsströmung, k) Brasilstrom, l) Peruströmung, m) Mexikanische
Strömung. Entwurf: G. Kortum 1999
Figure 1. Important Ocean Currents in the Atlantic and Eastern Pacific Ocean
according to A. v. Humboldt and track of his voyages 1799- 1804 (dotted lines,
dates and ports cp. Tab. 1). Ocean current names: a) Equinoctial Current ,b) Gulf
Stream, c) North Atlantic Drift, d) Rennell-Current, e) Arctic Current, f) Hudson
Bay Current, g) South Atlantic Current, h) Southeast Üassat Drift, i) Southern
Connecting Current, k) Brasil Current, l) Peru Current, m) Mexican Current.
94 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Fahrtabschnitten etwa 15 500 sm zurückgelegt. Damit wird deutlich,
daß diese bisher weniger beachteten Abschnitte der Reise , die in
Neuausgaben mehr oder weniger gekürzt erscheinen oder gänzlich
fehlen, eigentlich als integraler Bestandteil des gesamten Reisewerkes
anzusehen sind. Die einzelnen Seeabschnitte der Reise sind aus Tab. 1
sowie der Kartenskizze (Abb.1) ersichtlich, die die Route nach allen
bisher vorliegenden Angaben vor dem Hintergrund der
Meeresströmungen aufzeigt, wie sie nach Humboldts damaliger
Auffassung verliefen.
Humboldt gestand in einer der persönlichen Bemerkungen in seinem
Hauptwerk “Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung” am
Ende der klassischen Zusammenfassung seiner meereskundlichen
Kenntnisse und Ansichten (Bd. I, 1845, S. 320- 332) seine
“eigenthümliche Vorliebe für das Meer” ein. In den Vorbemerkungen
zur “Reise in die Aequinoctialgegenden...” (im folgenden immer zitiert
nach der deutschen Bearbeitung von Hermann Hauff, Bd. 1, 1861, hier
S. 3) ergänzt Humboldt zu seiner marinen Disposition , daß er den
“Trieb zur See und zu weiten Fahrten von früher Jugend auf fühlte,”
obwohl oder gerade weil er fernab der Küste in Berlin aufgewachsen
war. Ferner berichtet er, daß “ich vermöge meiner Constitution nie
seekrank wurde und sooft ich an Bord eines Schiffes war, immer einen
großen Trieb zur Arbeit fühlte” (Reise ..., S. 28).
Diesem fundamentalen persönlichen Interesse für das Meer
verdanken wir nicht nur Humboldts zahlreiche Beobachtungen und
Messungen während seiner Seefahrten, sondern auch seine ständige
Auseinandersetzung mit den Fortschritten der noch wenig entwickelten
Meeresforschung über die Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tode.
Humboldt hat James Rennell (1742-1830) und Matthew Fontaine
Maury (1806-1873), die führenden angelsächsischen Hydrographen der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, persönlich gekannt und mit ihnen
korrespondiert. Seine meereskundlichen Beiträge sind indes auf längere
und kürzere Textpassagen in seinen wichtigsten Schriften verstreut, die
zu unterschiedlicher Zeit verfaßt wurden. Ein Teil seiner
diesbezüglichen Aufzeichnungen, insbesondere sein Memoir über die
Meeresströmungen, blieb leider bis heute unveröffentlicht (vgl. hierzu
Berghaus 1837, Engelmann 1969 und Kortum 1990).
Humboldt hat seine meereskundlichen Ansichten nachweislich
ständig weiterentwickelt. In diesem Zusammenhang sind angesichts der
recht zahlreichen Verweise auf Rennell in den “Ansichten der Natur”
sowie seitenweise Zitate von dem erst in jüngerer Zeit von englischer
Seite neu bewerteten englischen Geo- und Hydrographen (Rennell
1832: An Investigation of the Currents of the Atlantic Ocean; vgl. Bravo
1993, Gould 1993, Pollard und Griffith 1993) von besonderer
Bedeutung, die zur Zeit näher augearbeitet wird. Jedenfalls hatte
2001 G. Kortum 95
Humboldt Rennell anläßlich seines Besuchs in London Ende April 1827
besucht und von ihm Unterlagen erhalten. Im Grunde haben sich
Humboldt und damit auch Berghaus in wesentlichen Teilen der
Rennellschen Konzeption der Ozeanzirkulation angeschlossen.
Kartographisch hat Berghaus diese Konzeption aus Rennell 1832 in
seinen Physikalischen Atlas (1849-52) auf den Detailkarten der Ozeane
mit entsprechenden Hinweisen und Erläuterungen übernommen. Als
Weltkarte der “Meeresströmungen” findet sich eine vereinfachte
Darstellung in seinem 1850 in Gotha erschienenen “Physikalischen
Schul-Atlas”(Karte Nr. 5, Reprint Gotha 1985) . Dies dürfte mit großer
Wahrscheinlichkeit die angeblich verloren gegangene, Humboldt
zugeschriebene Karte der Meeresströmungen sein (vgl. auch im
größeren Zusammenhang Petterson/ Stramma und Kortum 1996).
Die “Reise in die Aequinoctialgegenden der Neuen Welt” mit der
ozeanographiegeschichtlich relevanten klassischen Schilderung der
Überfahrt von La Corunna nach Cumana (ohne Zwischenaufenthalt auf
Teneriffa zusammen 37 Seetage) spiegelt dagegen einen älteren
Wissensstand Humboldts wider. In dem kurz vor seinem Tode am 26.
März 1859 für die von Hauff nach seiner Anleitung besorgte deutsche
Übersetzung (zunächst als Band XXVIII des Reisewerkes 1814 auf
Französisch: “Relation historique ...”) von Humboldt verfassten Vorwort
verweist dieser auf sein “Uralter” und begründet, warum er im Interesse
einer lebendigeren Darstellung “meiner in den Jahren freudig
aufstrebender Jugend ausgeführten Reise” auf eine Überarbeitung des gut
50 Jahre zuvor verfaßten Textes verzichtet habe. “Material, durch welches
allgemeine kosmische Resultate begründet werden,” wurden gekürzt bzw.
weggelassen. Die Tagebücher der Atlantikquerung werden zur Zeit von
der A.v. Humboldt-Forschungsstelle in Berlin zum erstmaligen Druck
vorbereitet. - Das Tagebuch Nr. XIII , das Humboldt auf der Rückreise von
Philadelphia nach Bordeaux führte, bleibt leider unauffindbar und muß als
verschollen gelten. In einigen Teilen ist es über die ungedruckte
Abhandlung über Meeresströmungen ausgewertet worden.
Humboldt kam dann aber leider nicht mehr dazu, alle seine
meereskundlichen Beobachtungen und Kenntnisse unter dem Titel
“Oceanica” als Band 2 der “Kleineren Schriften” zusammenzufassen.
Auch sein Lebenswerk “Kosmos” blieb bekanntlich ein Torso. Ebenso
hat er die “Reisebeschreibung” leider nach seinen umfangreichen
wissenschaftlichen Tagebuchaufzeichnungen nicht abgeschlossen. Die
Darstellung endet mit seiner Ankunft in Cartagena am 30. März 1801, so
daß wir über Humboldts nur in Umrissen aus anderen Hinweisen
bekannte Fahrt in der “Südsee” von Peru nach Mexico und insbesondere
seine dem Golfstromsystem folgende Rückreise von Vera Cruz über
Havanna und Philadelphia und die Azoren nach Frankreich bislang erst
recht wenig wissen.
96 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Diese Tatsachen haben dazu beigetragen, daß Humboldts Beiträge
zur Meereskunde im sehr umfangreich gewordenen Schrifttum und in
der allgemeinen Würdigung seines Werkes weniger wahrgenommen
wurden. Inzwischen ist eine Zusammenschau Humboldts
meereskundlicher Texte und Aufzeichnungen als Gemeinschaftsprojekt
des Instituts für Meereskunde Kiel und der A.v. Humboldt-
Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften in Vorbereitung. Hiermit soll eine auch international
zunehmend empfundene Lücke in der Dokumentation und Wertung
geschlossen werden.
HUMBOLDT IN DER GESCHICHTE DER
MEERESFORSCHUNG
Humboldt hatte bekanntlich selbst ein großes persönliches Interesse
an Wissenschaftsgeschichte. Dies zeigt sich besonders im 2. Band
seines “Kosmos” sowie, was entdeckungsgeschichtliche und nautische
Einzelfragen anbelangt, in akribischer Vielfalt seine “Kritischen
Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen
Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen
Astronomie in dem 15. und 16. Jahrhundert “(1836/1852). Inzwischen
sind Humboldt und sein umfassendes Werk immer wieder Gegenstand
der geowissenschaftlichen Disziplingeschichte geworden. Die
Beschäftigung mit seinen Schriften ist zeitlos und mit den meist ohne
Schwierigkeiten herzustellenden Bezug zu heutigen Forschungsfragen
immer wieder lohnend.
Die Geschichte der Ozeanographie hat sich in den letzten 20 Jahren nun
auch in Deutschland durch Bildung eines eigenen Arbeitskreises in der
Deutschen Gesellschaft für Meeresforschung sowie der Begründung eines
eigenen Organs (“Historisch- meereskundliches Jahrbuch,” hrsg. vom
Deutschen Museum für Meereskunde und Fischerei in Stralsund) fest
etabliert. In der internationalen Diskussion wurden die herausragenden
deutschen Beiträge zur frühen Meeresforschung vorher zugunsten der
angelsächsischen Traditionen nur mangelhaft wahrgenommen (vgl. Deacon
1971, Schlee 1973, dagegen Paffen /Kortum 1984).
Das fortwährende Erbe Humboldts in der Ozeanographiegeschichte
ist bisher trotz verschiedener Würdigungen gerade von Kieler
Geographen und Ozeanographen noch keineswegs ausreichend
gekennzeichnet (vgl. Krümmel 1904, Wüst 1959, Dietrich 1970,
Kortum 1990 und 1999, vgl. auch Defant 1960). Inzwischen wird
Humboldt als einer der Pioniere allgemein anerkannt. Hierbei wird von
allen Bearbeitern davon ausgegangen, daß sich die Meeresforschung im
deutschen Sprachraum aus der Physischen Geographie entwickelt hat.
Es war Humboldt, der dem amerikanischen Hydrographen M.F. Maury
2001 G. Kortum 97
anläßlich dessen Besuchs in Berlin 1853 den Titel “Physische
Geographie des Meeres” (1855) für sein langjähriges Standardwerk der
Meereskunde vorgeschlagen hat. In der deutschen Meeresforschung ist
über die vielfältige Arbeit und Wirkung des ehemaligen Museums und
Instituts für Meereskunde eine ungebrochene Humboldt- Tradition bis
heute festzustellen. Nicht zu Unrecht hängt sein Bildnis deshalb in der
Reihe der Wegbereiter der Ozeanographie in der Eingangshalle des
Instituts für Meereskunde an der Universität Kiel.
Humboldts Beiträge betreffen insbesondere die physikalische
Ozeanographie, die Meeresbiologie und maritime Meteorologie,
weniger die Meeresgeologie. Insgesamt stehen sie denen zur
allgemeinen Klimatologie, Geologie, Pflanzengeographie , Geophysik,
Astronomie, vergleichenden Erdkunde und anderen Wissenschaften an
Bedeutung nicht nach und lassen Humboldt auch in dieser Hinsicht als
großen Polyhistor und Nestor der Naturwissenschaften im 19.
Jahrhundert erscheinen. Bereits bei seinem Tode war er ein Denkmal,
und bis heute hat es mehrere Phasen erneuter intensiver Perzeption des
Humboldtschen Denkens gegeben. Insofern bleibt Humboldt zeitlos.
Gerade heute deutet sich wiederum anläßlich der 200- jährigen
Wiederkehr seiner Ausreise nach Amerika ein erneutes Interesse an
seinem Leben und Werk an, dies gilt insbesondere für alle ökologisch
orientierten Disziplinen.
MEERESKUNDE UNTER SEGELN
Die heutige Bremer Dreimastbark “Alexander von Humboldt,” das
ehemalige Kieler Feuerschiff, lief Ende 1998 zu ihrer Goodwill Tour
nach Südamerika aus und zeigte besonders in der Karibik, die Humboldt
mehrfach befuhr, Flagge. Als Schiffsname ist die Benennung nach
Humboldt nicht selten. Auch Forschungsschiffe in Deutschland (Institut
für Ostseeforschung) und Peru (Fischereiforschungsschiff) tragen
Humboldts Namen. Bei der Benennung von Forschungsschiffen spielten
weniger Humboldts besondere, wenn auch bei Fachleuten meist wenig
gegenwärtigen meereskundlichen Interessen eine Rolle, sondern seine
allgemeine akademische und wissenschaftliche Bedeutung.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß es Humboldt
war, der erstmals während seiner Südamerikareise vorschlug, den
synoptischen Einsatz von speziell mit Instrumenten ausgerüsteten
Regierungsschiffen zur Erfassung der Variabilität von Meeresströmungen
vorzusehen, eine damals innovative Idee, die leider erst
sehr viel später aufgegriffen wurde. Beispielhaft sei dieser Aspekt
ausgeführt: Erstmals findet sich dieser Gedanke in einer Tagebucheintragung
vom 16.12. 1800 während der Fahrt durch die Karibik
von Nueva Barcelona nach Kuba. In der Darstellung der “Reise ...”
98 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Abbildung 2. Manuskriptseite aus A.v. Humboldts ungedruckter Abhandlung
über Meeresströmungen. Inhaltlich bezieht sich der Text auf das in der heutigen
Meeres- und Klimaforschung intensiv diskutierte Problem der thermischen
Variabilität im Nordatlantischen Ozean. Erstveröffentlichung, mit frdl.
Genehmigung des Schiller-National-Museums, Deutsches Literaturarchiv,
Cotta-Archiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Marbach. Bemerkung: Die
Sätze ab “Es ist gegenwärtig ...” finden sich bereits bei H. Berghaus 1837, Bd. 1,
S. 415.
2001 G. Kortum 99
(1861, S. 41-42) heißt es dazu: “Da die Kenntnis der Strömungen zu
Abkürzungen der Seefahrten wesentlich beitragen kann, so wäre es von
so großem Belang für die praktische Seemannskunst, als
wissenschaftlich von Interesse, wenn Schiffe mit vorzüglichen
Chronometern im Meerbusen von Mexico und im nördlichen Ocean
zwischen dem 30. und 54. Grad der Breite kreuzten, ganz eigens zu dem
Zweck, um zu ermitteln, in welchem Abstand sich der Golfstrom in den
verschiedenen Jahreszeiten und unter dem Einfluß der verschiedenen
Winde von dem Vorgebirge von Hatteras und Codd hält...Neben der
Richtung und Geschwindigkeit der Strömungen könnte sich eine solche
Expedition mit Beobachtungen über die Meerestemperatur, über die
Linien gleicher Abweichung, die Inclination der Magnetnadel und die
Intensität der magnetischen Kraft beschäftigen ...”
Diese Anregung ist typisch für Humboldts intuitives Gespür für
wissenschaftliche Probleme, die noch heute für die Meeresforschung
teilweise relevant sind. Kurz vor seinem Lebensende bedauerte es der
greise Humboldt in der Manuskriptfassung über die Meeresströmungen,
die zahlreiche, hier nicht weiter im Detail ausgeführte weiterführende
ozeanographische Gedanken über die Zirkulation im Nordatlantik
enthält, daß seine Jahrzehnte zuvor gegebene Anregung nicht in die
Praxis umgesetzt wurde.
Humboldt stand forschungsgeschichtlich auch in Beziehung zur
Meereskunde zwischen einzelnen Perioden, wie immer man diese
abgrenzt. Fast wäre er, den Spuren des von ihm seit der Studentenzeit
hoch verehrten Lehrers und Reisegefährten Georg Forster folgend, zum
Weltumsegeler geworden. Die Periode der sog. “Weltumsegelungen”
(Circumnavigations) ist klar abzugrenzen von Cooks Reisen bis zu den
zeitweise zeitgleichen Expeditionen der “Challenger”(1872-76) und
“Gazelle”(1874-76). Es waren etwa zwei Dutzend Fahrten
verschiedener Länder, die von Regierungen finanziert wurden und einen
wissenschaftlichen Stab an Bord hatten, am Anfang vielseitige
“Naturgeschichtler.” Darwins “Beagle”-Fahrt gehört hierzu.
Wie Humboldt in den einleitenden Vorbemerkungen der “Reise...”
ausführt, hatte er sich zur Teilnahme für die Weltumsegelung Kapitän
Baudins fest vormerken lassen (und hierbei seinen Begleiter Bonpland
kennengelernt). Diese wurde dann aber verschoben, und Humboldt
mußte seine Reisepläne ändern. Er hatte aber noch in Südamerika die
Figure 2. Manuscript page of Humboldt’s unpublished text on ocean currents,
with additional remarks concerning the variability of heat transport in the Gulf
Stream system, a topic of modern climate and ocean research. Note: first
publication, courtsey Schiller National Museum, Deutsches Literaturarchiv,
Cotta Archiv (Stiftung Süddeutsche Zeitung), Marbach. Sentences following
“Es ist gegenwärtig ...” were printed by H. Berghaus 1837, Vol. 1, p. 415).
100 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Absicht, zu dieser französischen Expedition zu stoßen, dies war sogar
der Anlaß, überstürzt aus Kuba nach Südamerika zurückzukehren. Ohne
diesen Entschluß wäre Humboldt nie zum Chimborazo gelangt. Seinen
nach vielen Mühen erlangten Spezialpaß für die spanischen Besitzungen
in Amerika (heute würde man sagen Forschungsgenehmigung) ließ sich
Humboldt dann auf die Philippinen erweitern, weil er immer hoffte,
über den Pazifik und Indien nach Europa zurückzugelangen.
Humboldt auf Forsters Spuren im Pazifik? Die Wissenschaftsgeschichte
wäre wohl anders verlaufen. Allerdings wären die
Golfstrom- Untersuchungen Humboldts während der Rückreise nie
entstanden. Als Begründer und Meister der vergleichenden Methode in
der Erdkunde konnte er somit einen meeresgeographischen Vergleich
der nordatlantischen und ostpazifischen Strömungssysteme in ihrer
raumzeitlichen Variabilität vornehmen. Sein ungedruckt gebliebenenes
Memoir über Meeresströmungen trägt den Titel “Über Meeresströmungen
im allgemeinen und über die kalte peruanische Strömung
der Südsee im Gegensatze zu dem warmen Golf- oder Florida-Strome”
(vgl. hierzu bereits Kortum 1990) - Diese Fragestellung ist in der
gegenwärtigen Meeres- und Klimaforschung von höchstem Interesse.
Man nimmt an, daß El-Nino- Effekte (ENSO: El Nino Southern Oscillation))
auch die dekadischen Schwankungen im Nordatlantik (NAO:
North Atlantic Oscillation) beeinflussen könnten.
HUMBOLDT UND DER HUMBOLDT-STROM
Die pazifischen Studien Humboldts sind zwar als Episode der
Gesamtreise in Form der 47 Seetage umfassenden Überfahrt von Callao
über Guayaquil nach Acapulco zur Jahreswende 1802/ 03 bekannt, aber
erst wenig ozeanographiegeschichtlich ausgewertet. Auch diese
Forschungslücke wird demnächst geschlossen werden (vgl. hierzu
bereits die Tagebuchauswertungen von Faak 1986). Humboldt konnte
1802 auf dem Wege von der Inka-Stadt Caxamarca zur Küste erstmals
die Südsee sehen. Ein seit seiner Jugend gehegter Traum ging in
Erfüllung, wie wir auch einer sehr persönlich gefärbten Passage in den
“Ansichten der Natur” entnehmen können. Hier heißt es (Bd.2, S.365):
“Der Anblick der Südsee hatte etwas feierliches für den, welcher einen
Theil seiner Bildung und viele Richtungen seiner Wünsche dem
Umgange mit einem Gefährten des Captain Cook verdankte. Meine
Reisepläne hatte Georg Forster früh schon in allgemeinen Umrissen
gekannt, als ich den Vorzug genoß, unter seiner Führung das erste Mal
(jetzt vor mehr als einem halben Jahrhundert) England zu besuchen.”
Humboldt ist damit einer der Pioniere der Ozeanographie. Nach ihm
hat sich zumindest im deutschsprachigen Raum entgegen der üblichen
ozeanographischen Nomenklatur die Bezeichnung “Humboldt-Strom”
2001 G. Kortum 101
für die Kaltwasserströmung an der Küste von Chile bis Ecuador
durchgesetzt. Dies ist als eine besondere Ehrung anzusehen. In den 30er
Jahren kam es über diese Benennung in Deutschland zu einem wenig
ergiebigen Gelehrtenstreit zwischen dem Meeresgeographen G. Schott
und dem seinerzeit noch in Berlin (später am IfM Kiel ) tätigen G. Wüst
(vgl. Schott 1937). In Südamerika hatte man hierfür kein Verständnis.
Bis heute sieht man keinerlei Anlaß, von der Bennenung nach Humboldt
abzugehen, schließlich gibt es an der südamerikanischen Pazifikküste
auch noch Humboldt-Pinguine. Diskussionen am Rande von
Gedenksymposien anläßlich der Ankunft Humboldts in Amerika vor
200 Jahren, in Berlin und an den Universitäten in Boston, USA und
Conception, Chile ergaben aber immer wieder die Frage, wie es zu
dieser Namensgebung eigentlich gekommen ist. Humboldt und
Berghaus benutzten schließlich in ihren Texten und Karten immer die
Bezeichnung “Peruanische Strömung.”
Diese Benennung war von Beginn an nicht unumstritten. Heinrich
Berghaus, dem Humboldt seine handschriftlichen Aufzeichnungen über
Meeresströmungen uneigennützig für dessen kartographische Arbeiten
zur Verfügung gestellt hatte, druckte diese verbatim seitenweise in
seinem Kompendium zur Länder- und Völkerkunde (1837, Bd. I, S.575-
583) ab, unter anderem auch den klassischen Bericht über den “Peru-
Strom.” Der Kieler Geograph und Meereskundler Krümmel nahm dann
bereits 1904 diese Kurzmonographie in seine Klassiker-Sammlung für
die Lektüre im Hochschulbereich auf. Nur auf diese Weise überlebte der
Text Humboldts, denn seine Abhandlung “Über Meeresströmungen im
allgemeinen; und über die kalte peruanische Strömung der Südsee, im
Gegensatze zu dem warmen Golf- oder Florida-Strome” blieb
unvollendet und behandelte im ersten Teil ausschließlich den Golfstrom.
Von Humboldt selbst kommt der Name somit nicht. Berghaus aber
fügte am Ende seines “Raubdrucks” (1837, S. 584) den Zusatz an:
“Zwanzig Jahre nach seiner Zurückkunft nach Europa hatte Hr. von
Humboldt endlich die Freude und Genugthuung, die von ihm zuerst
gemachte Beobachtung und gleichsam Entdeckung einer kalten
Meeresströmung in dem östlichen Theile des Stillen Oceans und dem
Einfluß dieser Meeresströmung auf das Klima des Flachlandes von Peru
durch drei...Reisende... in den verschiedensten Jahreszeiten auf’s
Vollständigste bestätigt zu sehen. “Hierzu wird folgende Fußnote
angefügt:” Weshalb man sie auch mit Recht “Humboldt’s- Strömung
nennen kann.” Berghaus folgte hiermit einer Anregung von F. J. F.
Meyen (“Reise um die Welt” 1835).
Berghaus arbeitete gleichzeitig an einer Karte über die Gewässer vor
Peru für seinen Royal Prussian Maritime Atlas, den er Humboldt mit
einer ausführlicheren Widmung im Geiste der Zeit widmen wollte. Es
heißt dort u.a. “Showing Bn Humboldts thermometrical navigation and
102 Northeastern Naturalist Special Issue 1
various passages from Callao to Guayaquil during the last days of the
month of December 1802.” In einem Brief vom 21. Februar 1840
verwahrte sich Humboldt allerdings hiergegen entschieden. “Ebenso
protestiere ich (auch allenfalls öffentlich gegen alle ‘Humboldtsche
Strömung... Die Strömung war 300 Jahre vor mir allen Fischerjungen
von Chili bis Payta bekannt: ich habe bloß das Verdienst, die Strömung
des strömenden Wassers zuerst gemessen zu haben.”Als Berghaus ihm
schließlich die Karten am 6. Dezember 1840 zuschickte, war Humboldt
dann aber doch geschmeichelt: “Ich finde bei meiner Rückkunft von
Charlottenburg Ihre schönen Karten, unter ihnen die, auf der Sie für
ganz kleine Verdienste meinen Namen zu sehr verherrlicht haben,”
heißt es im Antwortschreiben am folgenden Tag. Die Namensgebung
wurde also in Berlin vorgenommen, fernab von Humboldts
Expeditionsgebiet.
Krümmel hat den Bericht Humboldts über seine Messungen in
seinem “Peru-Strom-Text” (1904) aufgenommen: “Das erste Geschäft
eines reisenden Physikers, wenn er nach langer Abwesenheit in
Gebirgsgegenden an die Meeresküste gelangt, ist die Bestimmung der
Barometerhöhe und der Temperatur des Wassers. Ich war mit letzterer
beschäftigt in der Gegend zwischen Truxillo und Guaman, bei Callao de
Lima und auf der Schiffahrt von Callao nach Guayaquil und Acapulco in
einer Strecke des Stillen Meeres von mehr als hundert deutschen
Meilen. Zu meinem größten Erstaunen fand ich das Meer an der
Oberfläche unter Breiten, wo es außerhalb der Strömungen 26 Grad bis
28,5 Grad ist, bei Truxillo, Ende September , 16 Grad, bei Callao,
Anfang November ,15 Grad.” Humboldt teilt eine große Menge
Beobachtungsmaterial mit und kommt zu der “ durch viele Seefahrer
bestätigten Ansicht, daß die peruanische Strömung eine Polarströmung
sei, welche von hohen Breiten niedern zueilend den Hauptsinuositäten
der Küste und NNW Richtung folgt.”
Diese Auffassung wurde seitdem aufgegeben. Meereskundlich
rechnet man das Seegebiet vor Chile und Peru zu den Auftriebsregionen
des Weltmeeres, die sich ähnlich unter dem Einfluß der Passatwinde an
den Ostküsten der Kontinente von Nordamerika und Afrika finden. Das
oft wegen seines Planktonreichtums flaschengrüne Wasser des
Humbold-Stroms (diesen Namen sollte man in der wissenschaftlichen
Literatur von deutscher Seite beibehalten) setzt als 3000 km langes und
80-100 km breites Stromband von 32 Grad S bis Cab Blanco (4 Grad S)
mit einer Geschwindigkeit von 0,4- 0,7 m /sec (15 sm /Tag) . Mit einem
Wassertransport von 10-15 Mio. cbm/sec erreicht der Humboldtstrom
aber nicht die Bedeutung des Golfstroms. Wie bei diesem ist aber auch
der Humboldt-Strom durch Variabilität in Raum und Zeit geprägt.
Wichtig ist, die um 5-8 Grad kühlere Wassertemperatur durch den
Auftrieb aus etwa 200 m Wassertiefe zu erklären, also durch
2001 G. Kortum 103
Querzirkulation zur Stromrichtung. Die Folge ist eine sehr gute
Entwicklung mit allen Folgen für die Nährstoffversorgung des
Planktons an der Oberfläche, das wiederum den Fischreichtum und
hohen Seevogelbestand im küstennahen Ökosystem bedingt.
Hierbei kann es zu Störungen kommen, gerade am Cabo Blanco, wo
sich der Strom Richtung Galapagos -Inseln nach Westen wendet. Ein
warmer Gegenstrom kann sich auf der rechten Stromflanke unter
bestimmten Vorbedingungen im weiten Pazifikraum an der Küste nach
Süden vorarbeiten, mit katastrophalen Folgen für die Fischerei an der
Küste. Alle 5 bis 7 Jahre kehrt diese “El Nino” genannte Störung im
Strömungssystem wieder, genannt “Christkind,” weil dieses Phänomen
vornehmlich zur Weihnachtszeit und zuerst bei Cabo Blanco auftritt.
Im “Kosmos,” Bd. I, 1845, S. 328 heißt es hierzu:
“Das Gegenstück zu diesem, fast ganz die nördliche Hemisphäre
zugehörigen Strom im atlantschen Meeresthale zwischen Afrika,
Amerika und Europa bildet eine Strömung in der Südsee, deren niedrige,
auch auf das Klima des Littorals bemerkbar einwirkende Temperatur ich
im Herbst 1802 zuerst aufgefunden habe. Sie bringt die kalten Wasser
der hohen südlichen Breiten an die Küsten von Chili, folgt den Küsten
dieses Landes und denen von Peru erst von Süden gegen Norden,dann
(von der Bucht von Arica an) von Süd- Süd- Ost gegen Nord- Nord-
West. Mitten in der Tropengegend hat dieser kalte oceanische Strom zu
gewissen Jahreszeiten nur 15,6 Grad , während daß die ruhende Wasser
außerhalb des Stromes eine Temperatur von 27,5 Grad und 28,7 Grad
zeigen ...”
Analysieren wir nun Humboldts Aufzeichnugen und Meßergebnisse von
seiner Seereise von Lima über Guayaquil nach Acapulco, so wird
deutlich, daß Humboldt zu eben dieser Zeit die Küste befuhr. Er schiffte
sich mit seinen Begleitern am 24. Dezember 1802 in Callao auf der
spanischen Fregatte “La Castora”ein und erreichte am 4. Januar
Guayaquil (Weiterreise am 17.2. 1803, Ankunft in Acapulco am 22.
März 1803). Es war offensichtlich kein “El Nino”- Jahr, wie Humboldts
Tabelle der Meeres- und Luftwärme vom Callao de Lima Guayaquil
zeigt (in Krümmel 1904, S. 26). Archivstudien im Rahmen der
modernen El Nino- Forschung zeigen, daß dieses Phänomen 1791 und
1804 auftrat. Humboldt diskutiert ausführlich mit zahlreichen Belegen
die Veränderlichkeit der maritim-meteorologischen Gegebenheiten
dieses meeresökologisch sehr sensiblen Küstenbereiches und berichtet
von Auswirkungen annormaler Jahre mit Starkregen und Ausbildung
der typischen Küstennebel (Garua). “Nur der mehrjährige Aufenthalt
eines Physikers an diesem Grenzpunkte, einer wahren Wetterscheide
würde uns befriedigen können ...,” die von Humboldt klar erkannte
Labilität von Meer und Atmosphäre aufzuklären.
104 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Ein früher Hinweis auf “El Nino” ? Dieser ist bei der Breite und
intuitiven Ahnung Humboldts in seiner universalen Natursicht nicht
überraschend. Hat doch Humboldt auch zuerst den Vorschlag gemacht,
im Atlantik mit mehreren Forschungsschiffen eine synoptische
Aufnahme des Golfstromsystems vorzunehmen. Seine Gesamtschau
“Oceanica” wurde von ihm nie vollendet, es lebt aber Humboldts Geist
weiter in vielen Projekten der heutigen Klima- und Meeresforschung.
DISKUSSION
Die bisherige Bestandsaufnahme ergab, daß Humboldt sicher nicht
als Begründer der Meeresforschung anzusehen ist. Er hatte aber im
Rahmen seines umfassenden und vernetzten, auf das Zusammenwirken
in der Natur zielenden Gesamtansatzes sehr wohl meereskundliche
Interessen. Diese bezogen sich sehr wesentlich, beruhend auf eigene
Beobachtungen und Messungen, auf die ozeanische Zirkulation und ihre
Auswirkungen auf das Klima sowie die Ökologie des Meeres.
In der klassischen Zusammenfassung seiner vielfältigen, über seine
Hauptwerke und teils schwerer zugänglichen Arbeiten verstreuten
Beiträge zur Meereskunde umschrieb Humboldt im “Kosmos” (I845,
Bd. I, S. 320-332) ganz richtig einen fundamentalen Grundsatz der
Meeres- und Klimaforschung:”Das Meer hat unter allen Zonen eine
Tendenz, die Wärme seiner Oberfläche in den der Luft nächsten
Wasserschichten zu bewahren, da die erkalteten Theile als die
schwereren hinabsteigen.”
Bekanntlich nahm Humboldt eine große Zahl wissenschaftlicher
Instrumente der besten europäischen Hersteller mit auf seine Expedition
und benutzte diese fleißig. Er war allerdings besser für Messungen im
“Luftmeer” (Kosmos, 1845, Bd. I, S. 332) ausgerüstet als für
ozeanographische Beobachtungen in der “tropfbar-flüssigen Umhüllung
unseres Planeten” (Kosmos, 1845, Bd. I, 320). Das Thermometer konnte
in beiden Fließmedien eingesetzt werden, im Meer allerdings nur an der
Oberfläche. Auf der Ausstellung” A.v. Humboldt- Netzwerke des
Wissens”wurde in Berlin und Bonn 1999 zwar auch ein altes Aräometer
gezeigt, mit dem über die Dichte bei bekannter Temperatur der
Salzgehalt zu ermitteln ist, eigene Messungen des Salzgehaltes finden
sich aber in Humboldts Texten nicht. Der haline Aspekt im
Zirkulationsgeschehen tritt deshalb sehr gegenüber den für Humboldt
entscheidenden thermischen Bereich zurück.
Tiefentemperaturmessungen waren seinerzeit schwer anzustellen.
Einzelne Ergebnisse lagen hingegen von anderen naturwissenschaftlich
interessierten Seefahrern vor. Humboldt berichtet nur über einen
eigennem Versuch, und zwar kurz vor der Abreise mit der “Pizarro”
nach Amerika an der galizischen Küste in der ersten Juni- Woche 1799.
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In der Reisebeschreibung heißt es hierzu (Reise..., 1860, Bd. 1, S. 21):
“ Auf der Überfahrt von Corunna nach Ferrol machten wir über einer
Untiefe beim ‘weißen Signal’, in der Bai, die nach d’Anville der portus
magnus der alten war, mittels einer Thermometersonde mit Ventilen
einige Beobachtungen über die Temperatur der See und über die
Abnahme der Wärme in den über einander gelagerten Wasserschichten .
Über der Bank zeigte das Thermometer an der Meeresfläche 12°5 bis
13°3 Grad der hunderttheiligen Scala, während ringsumher, wo das Meer
sehr tief war, das Thermometer bei 12°8 Lufttemperatur auf 15°- 15°3
stand.”- Humboldt nimmt dieses Resultat als Beleg für seine auch in
anderen Texten breit ausgeführten These der “Erkältung des
Meerwassers” auf Untiefen. Diese aus heutiger Sicht obsolete, in
einzelnen Fällen als lokaler Auftrieb von Tiefenwasser zu deutende
Vorstellung, könnte nach Humboldts häufig zur praktischen Anwendung
wissenschaftlicher Ergebnisse neigenden Auffassung für die
“thermometrical navigation” im Sinne von B. Franklin genutzt werden.
Humboldt hat die Existenz polarer Tiefenströmungen somit zwar
nicht selbst messen können, aber spekulativ richtig erschlossen (vgl.
bereits WÜST 1959). Die gegenwärtig mit Hochleistungscomputern in
den großen meereskundlichen Instituten ausgewertete und modellierte
Datenfülle des in internationaler Zusammenarbeit über 10 Jahre
durchgeführten World Ocean Circulation Experiments ( WOCE)
bestätigen in großartiger Weise viele von Humboldt erstmals
theoretisch formulierte Erkenntnisse. Hierzu rechnet auch die heute
gängige vereinfachte Vorstellung vom erdumspannenden Ocean Conveyor
Belt, dem alle Ozeane umfassenden Transportband der
Meeresströmungen an der Oberfläche und in der Tiefsee, das letztlich
durch bislang unzureichend verstandene Konvektionsprozesse in
polaren Meeren in Gang gehalten wird und das Weltklima in seiner
Variabilität steuert.
Einige Abschlußfragen müssen zur Zeit noch offen bleiben, da die
zur Zeit bearbeitete Gesamtdokumentation “Oceanica” noch nicht
vorliegt. Zu klären sind insbesondere die Quellen, die Humboldt zur
Bearbeitung seiner Texte heranzog. Derzeit ist noch ungeklärt, warum
Humboldt die Druckvorbereitungen seiner Abhandlung über
Meeresströmungen abbrechen ließ, obwohl große Teile bereits als
Korrekturbögen gesetzt waren. Des weiteren muß die Frage gestellt
werden, warum Humboldt nicht stärker die guten hydrographischen
Ergebnisse der Reisen der Schiffe der Preussischen Seehandlungs-
Gesellschaft heranzog und diese nahezu vollständig Berghaus überließ.
Es wäre ihm nicht schwergefallen, in Berlin auch eine eigene Mitfahrt
zu organisieren, hatte er dies doch auch für den Berliner Arzt und
Naturforscher Meyen erreicht, auf den letztlich die Benennung des
Humboldt-Stroms zurückging. Dies unterblieb aber.
106 Northeastern Naturalist Special Issue 1
Weiterhin sind Humboldts meeresbiologischen Beiträge stärker
herauszuarbeiten ( vgl. bereits Theodorides 1965). Sie ergänzen nicht
nur Humboldts pflanzengeographische Arbeiten an Land, sondern
führen uns in die frühe Phase der Planktologie. Humboldt benutzte an
Bord fleißig sein Mikroskop und führte später zusammen mit seinem
Freund und Reisegefährten auf der Sibirischen Reise 1828 , Christian
Gottfried Ehrenberg, “Infusorien”-Studien an Planktonproben aus dem
Kieler Hafen durch, die Prof. Michaelis von der Universität Kiel nach
Berlin geschickt hatte (vg. hierzu die Erläuterung zum “Leuchten des
Meeres” in “Ansichten der Natur,” 2.Bd, 1860, S. 48-49). Humboldt war
nie in Kiel, dennoch läßt sich aber hiermit eine wissenschaftliche
Beziehung zu diesem traditionsreichsten Standort der deutschen
Meeresforschung herstellen. Hier werden die von Humboldt vor 200
Jahren angeregten Fragen der Ozeanographie und Meeresökologie im
Rahmen der international und global ausgerichteten Kernprojekte des
Weltklimaforschungsprogamms und der Global Change- Forschung in
wichtigen Einzelaspekten am Institut für Meereskunde intensiv
weiterbearbeitet.
Gegenwartsbezogene disziplingeschichtliche Untersuchungen
bedürfen keinerlei Rechtfertigung. Dies wußte bereits Humboldt, der
immer auch Objekt geowissenschaftlicher Rückbesinnung bleiben
wird. “Die Natur ist eine unerschöpfliche Quelle der Forschung, und
im Maaß, da die Wissenschaft voranschreitet, biete sie dem, der sie
recht befragen weiß, immer wieder eine neue Seite, von der er sie bis
jetzt nicht betrachtet hatte...” (Humboldt in “Reise ...” Bd. 1, 1860, S.
188).
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